Ist es ein Zeichen?
Wenn wir ein Bild betrachten, ein Gedicht lesen oder ein Meme sehen – sehen wir dann wirklich „das Ding an sich“? Oder sehen wir ein Zeichen, das auf etwas anderes verweist?
Eine Annäherung an diese Frage bietet der französische Philosoph, Schriftsteller und Literaturkritiker Roland Barthes. Er beschäftigte sich intensiv mit Semiologie, der Lehre von Zeichen und Zeichensystemen. Barthes verband strukturalistische, dekonstruktive und psychoanalytische Methoden, um die verborgenen Bedeutungen in Texten, Bildern, Filmen, Werbung oder Mode offenzulegen.
Ein zentraler Gedanke des Strukturalismus:
Alles, was wir erkennen, entsteht durch Auseinandersetzung – durch Diskurs, durch Interpretation.
Der Rezipient schafft nach Barthes ein dem Original ähnliches Original.
Die Bedeutung eines Objekts ist also nicht festgelegt, sondern entsteht erst im Akt des Betrachtens, Verstehens und Rekonstruierens. Das gilt für Literatur ebenso wie für Alltagsphänomene – oder digitale Medien.
Die Autorin ist tot – es lebe der Leser
Barthes‘ berühmter Aufsatz „La mort de l’auteur“ (Der Tod des Autors) bringt diese Haltung auf den Punkt:
Nicht der Autor entscheidet über die Deutung eines Textes – sondern der Rezipient.
Texte sind, so Barthes, ein Gewebe aus Zitaten – aus Sprache, Geschichte, Kultur. Jeder Leser (oder jede Leserin) bringt eine eigene Perspektive mit und erzeugt damit eine eigene Version des Textes. Eine Art Simulakrum: ein ähnliches Bild, das etwas sichtbar macht, das im Original verborgen war.
Zwischen Realität und Simulation
In der digitalen Welt wird diese Idee noch spannender – und komplexer.
Barthes‘ Theorie der Intertextualität bekommt im Netz eine neue Dimension: In sozialen Medien, Memes oder KI-generierten Inhalten verschränken sich unzählige Zeichenquellen. Alles zitiert alles. Alles verweist auf anderes.
Der Begriff des Simulakrums, den Barthes bereits andeutet, wurde später von Jean Baudrillard weiterentwickelt: In der Postmoderne, so Baudrillard, leben wir zunehmend in Zeichenwelten, die keine feste Realität mehr abbilden – sondern nur noch andere Zeichen.
Jedes Zeichen ist ein Anfang
Die Frage „Ist es ein Zeichen?“ ist kein bloßes philosophisches Gedankenspiel. Sie betrifft unsere tägliche Wahrnehmung – gerade in einer Welt, in der Realität zunehmend medial vermittelt, simuliert und bearbeitet erscheint.
Was wir sehen, lesen, glauben, verstehen – ist nicht das „Original“, sondern immer auch ein Konstrukt. Ein Text, ein Bild, ein Meme, ein KI-generierter Clip: Alles sind Zeichen, die wir lesen, verstehen und rekonstruieren – auf unsere eigene Weise.
In „Die Sprache der Mode“ schreibt Barthes: Die Soziologie der Mode ist ganz der realen Kleidung zugewandt, die Semiologie dagegen einem Ensemble kollektiver Vorstellungen (Barthes, Die Sprache der Mode, 19)
Die Bedeutung liegt nicht im Objekt – sondern im Akt der Deutung und damit in der Fortsetzung des gedanklichen Webens, Schreibens und Überschreibens in unserer kollektiven Vorstellung.
Quellen:
Roland Barthes: La mort de l’auteur. In: Roland Barthes: Le bruissement de la langue. Paris 1984.
Roland Barthes: Die Sprache der Mode. Frankfurt am Main. 1985
@Ubifacts, 10. Juni 2025
Abb: Beitragsbild: Elisabeth Hödl; die darin enthaltene Unknown Goddess #5.jpg