Intertextualität: was nun?
Die digitale Medienlandschaft ist durch Medienkonvergenz geprägt: Massenmedien, Individualmedien und soziale Netzwerke durchdringen sich zunehmend. Aus juristischer Perspektive führt dies zu einem wachsenden Bedarf an Regelungen, die über klassische Mediengesetze hinausgehen – das sogenannte Multimediarecht ist entstanden, um Phänomene wie Plattformkommunikation, Internetrecht oder Cyberlaw zu erfassen.
Besonders schwierig ist dabei die rechtliche Einordnung „neuer“ digitaler Inhalte: Die verlustfreie Reproduzierbarkeit, die Kombination aus Text, Bild, Ton und Video sowie die virale Verbreitung über soziale Netzwerke werfen Fragen auf, die das klassische Medienrecht nicht vollständig beantworten kann.
Intertextualität: Zwischen Zitat, Inspiration und Plagiat
Der Begriff Intertextualität stammt ursprünglich aus der Literaturwissenschaft und bezeichnet die grundsätzliche Verflochtenheit aller Texte. Kein Text steht für sich allein – vielmehr ist jeder Ausdruck Teil eines Netzes von Verweisen, Zitaten und kulturellen Bezügen.
Ein Beispiel dafür ist der Schriftsteller Jonathan Lethem, der in seinem Essay The Ecstasy of Influence fast ausschließlich mit Zitaten anderer Autor:innen arbeitet. In einem Interview mit dem Rolling Stone sprach er von einem „rhetorischen Angriff auf die Idee des einzelnen Autors“.
Intertextualität wird hier nicht als Ausnahme, sondern als Regel verstanden – als Ausdruck einer kollektiven kulturellen Produktion. Wenn alles ein Zitat ist: Gibt es dann überhaupt noch Plagiate?
Juristische Perspektive: Wo beginnt das geistige Eigentum?
Im Gegensatz zur Literaturwissenschaft, die Intertextualität oft als kreatives Stilmittel begreift, muss das Urheberrecht klare Grenzen ziehen – insbesondere zwischen erlaubter Nutzung (z. B. im Rahmen des Zitatrechts) und unerlaubter Übernahme (Plagiat, Urheberrechtsverletzung).
Aus juristischer Sicht umfasst Plagiat mehr als nur die wörtliche Kopie. Relevante Formen sind u. a.:
- Die direkte oder leicht veränderte Übernahme von Textstellen
- Die Übernahme von inhaltlichen Elementen wie Figuren, Motiven, Handlung
- Die Anlehnung an bestehende Werke in Form von Fortsetzungen oder Adaptionen
Ein wesentlicher juristischer Maßstab ist dabei die Frage, ob das Originalwerk noch „durchscheint“ – oder ob eine neue, eigenständige Schöpfung vorliegt. Diese Einschätzung ist häufig kontextabhängig und nicht immer eindeutig zu treffen.
Bachtin und die dialogische Textstruktur
Literaturtheoretisch lässt sich Intertextualität auch über den Begriff des Dialogismus nach Michail Bachtin fassen. Für Bachtin ist jeder Text ein Dialog mit anderen Stimmen – ein Zusammenspiel von Subjektivität und Kommunikativität.
Wie Julia Kiseva formuliert:
„Für Bachtin ist der Dialog nicht nur die vom Subjekt übernommene Sprache, sondern vielmehr eine Schreibweise, in der man den anderen liest.“
Dies lässt sich auch als frühe Beschreibung intertextueller Strukturen verstehen: Jeder Text trägt Spuren anderer Texte in sich – ein Gedanke, der heute besonders relevant wird im Umgang mit KI-generierten Inhalten.
Die Noosphäre: Vom individuellen Denken zur kollektiven Intelligenz
Hier kommt der Begriff der Noosphäre ins Spiel – eingeführt von Pierre Teilhard de Chardin und Wladimir Wernadski. Er bezeichnet die „Sphäre des Geistes“ als nächste Evolutionsstufe nach der Geosphäre (Materie) und der Biosphäre (Leben).
In heutigen Diskursen steht die Noosphäre für:
- ein kollektives Gedächtnis,
- eine Vernetzung von Gedanken,
- und eine emergente Form des kollektiven Wissens.
Das Internet, Open Source Communities, soziale Medien und KI-Systeme wie ChatGPT bilden technologische Realisierungen dieses Konzepts. Denken, Schreiben, Gestalten sind längst nicht mehr rein individuelle Akte – sie sind Teil eines größeren, vernetzten geistigen Raums.
KI, Intertextualität und Urheberrecht: Neue Herausforderungen
Künstliche Intelligenz verstärkt diese Entwicklungen. KI-Systeme basieren auf der Verarbeitung von Millionen von Texten, Bildern und Ideen – sie sind Produkte der Noosphäre. Doch rechtlich stellt sich die Frage: Wer ist Autor? Wer trägt Verantwortung? Wem gehört der Output?
Künstliche Intelligenz produziert Texte, die oft intertextuell sind – also „in der Sprache anderer“ sprechen. Aber ist das noch kreativ oder bereits eine Rechtsverletzung?
Diese Fragen machen deutlich, dass klassische Konzepte wie Urheberschaft, Originalität und geistiges Eigentum an ihre Grenzen stoßen, wenn man sie auf ein kollektives Denkfeld wie die Noosphäre anwenden will.
Fazit: Medienkompetenz neu denken
Medienkompetenz im digitalen Zeitalter heißt nicht nur, Inhalte zu verstehen oder zu produzieren – sondern auch, ihre Entstehungsbedingungen, rechtlichen Kontexte und epistemischen Strukturen zu reflektieren.
Die Verbindung von Intertextualität, Urheberrecht und Noosphäre macht folgende Gedanken diskutierbar:
- dass Kreativität nicht isoliert betrachtet werden kann,
- dass geistiges Eigentum auch auf kollektiven Prozessen aufbaut,
- und dass mediale Praxis im Spannungsfeld zwischen individueller Schöpfung und gemeinschaftlicher Sinnproduktion steht.
Diese Themenfelder stellen das juristische und regulatorische Denken vor große Herausforderungen.
In einer Welt, in der Künstliche Intelligenz Texte schreibt, Inhalte generiert und mit uns kommuniziert, wird es notwendig sein, unsere Vorstellungen von Autorenschaft und Verantwortung neu zu verhandeln – dies insbesondere im Bewusstsein für den noosphärischen Rahmen, in dem wir uns bewegen.
Quellenverzeichnis
- Bachtin, Michail M. (1971): Probleme der Poetik Dostojewskijs. Übersetzt von Ralf-Rainer Rytlewski. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Bachtin, Michail M. (1981): The Dialogic Imagination: Four Essays. Edited by Michael Holquist, translated by Caryl Emerson and Michael Holquist. Austin: University of Texas Press.
- Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman. In: Ders.: Ästhetik der Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979, S. 122–170.
- Fadinger, Stephan: Literaturplagiat und Intertextualität. u:theses | Detailansicht (4192)
- Kiseva, Julia (o.J.): Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Buck, Rainer et al. (Hrsg.): Ars poética. Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst, Bd. 8: Literaturwissenschaft und Linguistik. S. 351.
- Lethem, Jonathan (2007): The Ecstasy of Influence. In: Harper’s Magazine, Februar 2007. Online: https://harpers.org/archive/2007/02/the-ecstasy-of-influence/
- Lethem, Jonathan (2025): Interview in: Rolling Stone, Ausgabe 367, Mai 2025, S. 67–69.
@ubifacts, 16. Juni 2025; Beitragsbild Elisabeth Hödl