Ent-Netzung und Verbindung

In einer Welt, die zunehmend von Netzwerken durchzogen ist, erscheint der Gedanke an Ent-Netzung fast wie ein Kontrollverlust. Doch was, wenn genau darin eine Chance liegt?

Die moderne Sozialtheorie ist wesentlich relational gedacht – ein Umstand, den wir unter anderem Georg Simmel verdanken, der soziale Wirklichkeit als ein Geflecht wechselseitiger Beziehungen, als Vergesellschaftung durch Wechselwirkungen, beschrieb. Diese relationalen Denkansätze wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts von verschiedensten theoretischen Schulen weiterentwickelt.

Die Poststrukturalisten Gilles Deleuze und Félix Guattari prägten mit ihrem Konzept des rhizomatischen Werdens ein Modell, das auf nicht-hierarchische, sich stetig verändernde und sich verzweigende Strukturen verweist – ein Denken in Vielheiten statt in Einheiten. Niklas Luhmann wiederum sprach in seiner Systemtheorie von Konnektivität als zentralem Prinzip sozialer Systeme. Bruno Latour, Mitbegründer der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), betonte die Bedeutung assoziativer Verbindungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren.

In jüngerer Zeit hat der Soziologe Urs Stäheli eine Konvergenzthese in der Sozialtheorie formuliert, die diese verschiedenen relationalen Zugänge zusammenführt. Sein besonderes Interesse gilt dabei dem Phänomen der Entnetzung. In seinem Buch „Soziologie der Entnetzung“ (Suhrkamp, 2021) analysiert Stäheli die Instabilität und Flüchtigkeit von Netzwerken: Diese seien niemals dauerhaft oder abgeschlossen, sondern temporäre Verflechtungszusammenhänge, die ebenso rasch zerfallen können, wie sie entstehen.

Netzwerke, so zeigt Stäheli, tragen ein paradoxes Moment in sich: Sie sind nie vollständig, streben aber ständig nach neuen Verbindungen – ein Phänomen, das er als „Netzwerkfieber“ bezeichnet.

Was bedeutet es konkret, entnetzt zu sein – und wie lässt sich diese Erfahrung jenseits der Theorie darstellen oder reflektieren?

Ein fruchtbarer Zugang eröffnet sich über die kulturelle Imagination. Gerade die Literatur und das Kino bieten Räume, in denen die Ambivalenz von Vernetzung und Entnetzung nicht nur gedacht, sondern erzählt, gespürt und sichtbar gemacht wird. Zwei Beispiele – aus der Science-Fiction und aus dem europäischen Autorenfilm – führen das vor Augen.

Entnetzung erfahren: Von Netzwerken, Inseln und innerer Rückkehr

Bruce Sterlings Science-Fiction-Roman Inseln im Netz (1988) eignet sich in besonderer Weise, um das Konzept der Entnetzung narrativ zu veranschaulichen. Der Autor entwirft eine hochgradig vernetzte Welt, in der multinationale Konzerne mittels digitaler Informationsflüsse und globaler Dateninfrastrukturen das Weltgeschehen dominieren. Die fiktive Rizome Industries Group entsendet ihre Protagonistin Laura in geopolitisch sensible Zonen wie die Steueroasen Granada und Singapur – Schauplätze, die als Knotenpunkte einer deregulierten Informationsökonomie fungieren.

Doch die Handlung nimmt eine Wendung: Durch politische Umbrüche und gezielte Sabotageakte wird Laura wiederholt vom weltumspannenden Netz abgeschnitten. Diese plötzliche Isolation macht drastisch erfahrbar, wie tiefgreifend soziale, ökonomische und persönliche Lebensvollzüge inzwischen auf ständige Vernetzung angewiesen sind. In dieser digitalen Disruption offenbart sich, was es heißt, aus einem globalen Netzwerk herauszufallen – sozial, politisch und existenziell.

Während Laura anfänglich unter dem Verlust leidet, bringt die Entnetzung mit der Zeit auch eine paradoxe Form von Befreiung mit sich. Abseits der allgegenwärtigen Überwachung und Reizüberflutung beginnt sie, autonomer zu denken, intensiver zu fühlen und lokalere Wirklichkeiten bewusster wahrzunehmen. Die Unterbrechung der Verbindung wird so zur Bedingung eines neuen Sehens und Verstehens:

“I missed the Net — its voices, its flows — but there was something pure in the silence. The world shrank, became clearer. I began to truly see.”

Sterlings Roman liefert somit eine doppeldeutige Perspektive: Entnetzung erscheint einerseits als Kontrollverlust, andererseits aber auch als Möglichkeit zur Selbstreflexion und zur Wiederentdeckung des Konkreten im Zeitalter abstrakter Informationsflüsse.

Fellinis Entnetzung als symbolische Rückkehr zum Selbst

Eine weniger technische, dafür symbolisch-psychologische Perspektive auf das Thema Entnetzung bietet das filmische Werk Federico Fellinis – lange vor der digitalen Ära. In Filmen wie La Dolce Vita (1960) oder (1963) beschäftigt sich Fellini mit den Auswirkungen moderner Gesellschaften auf das Individuum: mediale Überreizung, soziale Rollenerwartungen, Entfremdung.

Seine Protagonisten – etwa der Boulevardjournalist Marcello oder der Regisseur Guido – wirken gefangen in einem unsichtbaren Netz aus gesellschaftlichen Erwartungen und innerer Leere. Ihre Krisen lassen sich als frühzeitige Diagnosen jener Überforderung lesen, die später mit digitalen Netzwerken noch komplexer werden sollte. Ihr Wunsch: ein Rückzug ins Private, eine Rückverbindung mit dem Inneren – eine Entnetzung im symbolischen Sinne.

Die Entnetzung erscheint hier nicht als digitaler Kontrollverlust, sondern als symbolische Selbstermächtigung.

Dieses von Claudia Vogeltanz aufgenommene Foto zeigt „Fellinis Schwan“, der die Ent-Netzung als ästhetische Übertragung
geschützter Räume symbolisiert, in denen Ent-Netzung als Recht auf Ruhe und innere Autonomie gedeutet wird.

Fazit: Entnetzung zwischen Theorie, Literatur und Film

Sowohl Sterling als auch Fellini zeigen, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven, dass Entnetzung nicht nur ein techno-soziologisches Phänomen ist, sondern auch eine existenzielle Erfahrung. Sie kann als Kontrollverlust erlebt werden – oder als Befreiung. Zwischen digitaler Unterbrechung und innerem Rückzug eröffnet sich ein Raum, in dem neue Formen der Aufmerksamkeit, der Autonomie und des Erkennens möglich werden.

Siehe dazu den Vortrag Elisabeth Hödl (Rechtswissenschaften) – Strategien der Ent-Netzung als Regulierungsthema im Rahmend des HFDT-PhD-Workshop zu „Ent-Netzung – Undoing Networks“, Forschungsnetzwerk „Human Factor in Digitral Transformation“ am 8./9. Mai 2025.

@ubifacts, 2.6.2025.