Der Zustand der Dinge
Wer sich mit dem Begriff der Kindness befasst, wird unweigerlich mit der Frage nach ihrer Bedeutung konfrontiert.
Was heißt es, freundlich, sanft oder zugewandt zu sein – in einer Welt, die sich entgrenzt, beschleunigt, verknäult? Kindness als Tastvermögen im Gewebe.
Hyperdynamisch und komplex sind die Märkte geworden, hyperdynamisch und komplex die Kommunikation. Inhalte entstehen durch Überschreibung und Verflechtung. Nebeneinander und Übereinander sehen wir Bilder, Texte, Töne, überlagerte Zeiten, Gefühle, Programme, Manifeste, Patente, Erfindungen, Bilanzen, Rechtsnormen. Es herrscht Unberechenbarkeit zwischen Fakten und Fiktionen.
True News.
Fake News.
Trainierte Trolle und ihre Jäger.
Alles liegt da, und irgendwo dazwischen: das poetische Lied der blauen Blume der Romantik.
Künstliche Intelligenz mischt Inhalte neu auf.
Vor und zurück geht die rasante Fahrt.
Wir durchschreiten Milieus, Räume und Zeiten als Zwerge auf Schultern von Riesen.
Vor und zurück springen wir, kreuz und quer, glatt und verkehrt stricken wir.
Die Gegenwart bewegt sich wie eine Membran im Zustand der Dinge.
Ich sehe die telematische Gesellschaft als Gewebe-Gesellschaft an. Es sind nicht allein die Knoten, Superknoten und Fäden, auf die wir stoßen. Wir entdecken die Membran, die sich durch die elektrische Erweiterung der menschlichen Sinne um den Globus legt (Siehe Das kosmische Gehirn).
In ähnlicher Weise finden wir Erläuterungen bei dem französischen Philosophen Michel Serres:
„Man stelle sich den Faden des Netzes oder die Drähte des Kabels oder Drahtgewirrs in mehr als einer Dimension vor; man stelle sich vor, das Geflecht sei die Spur des beschriebenen Zustandes auf einer Ebene. Der Zustand der Dinge erscheint mir als eine Vielzahl einander überkreuzender Verhüllungen, deren Geflecht eine Projektion darstellt. Der Zustand der Dinge ähnelt einem zerknitterten, gekräuselten, in Falten gelegten Stück Stoff mit Fältelungen und Volants, Fransen, Maschen und Schnurbesatz.
Es geht nicht darum, „eine schmückende Hülle abzunehmen“, sondern, so Serres, darum, „mit respektvollem Fingerspitzengefühl der komplizierten Anordnung der Hüllen und Zonen, der tiefen Staffelung der benachbarten Räume, dem Talweg ihrer Nähte zu folgen und sie, sofern möglich, auseinanderzubreiten wie das Rad eines Pfaus oder einen Spitzenrock.“
Vgl. Michel Serres, Die Fünf Sinne, Eine Philosophie der Gemenge und Gemische (1998) 105.

@ubifacts, 5. Juni 2025
Abb. Elisabeth Hödl